Die Besteigung des Hohen Kastens

Es war kurz nach dem Krieg, 1948, als uns Herr Leh­rer fei­er­lich erklär­te, dass er im Ein­ver­neh­men mit der hohen Schul­vor­ste­her­schaft beschlos­sen habe, end­lich wie­der eine Schul­rei­se durch­zu­füh­ren. Dank gross­zü­gi­ger Spen­den von Unge­nannt, kön­ne man dafür einen Rei­se­bus mie­ten. Da wir damals in Gott­lie­ben am Rhein nur gera­de 18 Schü­ler waren, wur­de das gesam­te Dorf ein­ge­la­den, um den Bus zu fül­len. Das Ziel war Brü­li­s­au mit der Bestei­gung des Hohen Kas­tens.
End­lich war der mit Unge­duld erwar­te­te Tag da und wir ver­sam­mel­ten uns um sechs Uhr mor­gens auf dem Schul­platz. Pünkt­lich kam der Bus und wir rauf­ten um die Fens­ter­plät­ze. Schon bald war Herr Leh­rer auf dem Vor­der­sitz ein­ge­schla­fen, was für Frau Leh­rer äus­serst pein­lich war. Die erwach­se­nen Begleit­per­so­nen, von denen nur ein paar weni­ge Eltern­tei­le von Schü­lern waren, genos­sen die Fahrt, wäh­rend wir Haupt­per­so­nen die immer grös­ser wer­den­den Ber­ge mit Stau­nen bewun­der­ten. Dann lud uns der Bus in Brü­li­s­au aus. Sprach­los starr­ten wir in die Höhe und konn­ten uns nicht vor­stel­len, dass man einen so hohen Berg zu Fuss bestei­gen kön­ne. Aber der uner­schro­cke­ne Leh­rer erklär­te, dass man sol­che Tou­ren unter stren­ger Ein­hal­tung von Stun­den­hal­ten über­le­ben kön­ne. Er wer­de vor­aus gehen um das Marsch­tem­po anzu­ge­ben und um zu ver­si­chern, dass das auf zwölf Uhr bestell­te Essen ja bereit sein wer­de. Frau Leh­rer ord­ne­te mit einem Blick auf ihren Mann an, dass im Restau­rant zum Ruh­sitz, am Weg zum Gip­fel, nicht ein­ge­kehrt wer­de. Die Müt­ter nick­ten im Ein­ver­ständ­nis. Wir Schü­ler wuss­ten nicht was der Ruh­sitz war.

Der kor­pu­len­te Schul­vor­ste­her und Herr Leh­rer führ­ten die Kolon­ne, die sich schon nach kür­zes­ter Zeit aus­ein­an­der zu zie­hen begann. Die Frau Leh­rer und der Gemein­de­am­mann muss­ten das Schluss­licht bil­den, um sicher zu sein, dass ja auch Alle pünkt­lich auf dem Berg sein wer­den. Der Him­mel war wol­ken­los und die Hit­ze brann­te erbar­mungs­los auf die sich müh­sam berg­auf­wärts schlep­pen­den Berg­stei­ger.
„Hur­ra, wir sind da!“, froh­lock­te einer der Schü­ler, der sich im Mit­tel­feld beweg­te.
„Nein, das ist der Ruh­sitz, nicht der Gip­fel, denn der ist dort, weit oben, dort, wo das Berg­re­stau­rant so klein ist wie ein Spiel­zeug­haus!“, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter, mei­ne wei­nen­de Schwes­ter an der Hand mit­schlep­pend.
„Es muss der Gip­fel sein, denn der Herr Leh­rer sitzt dort an einem Tisch.“
Ver­är­gert schau­te die Mut­ter vom Weg durch die offe­ne Tür und tat­säch­lich sass die Füh­rung der Schu­le beim Rot­wein. Der Leh­rer schnauf­te schwer.
„Ich will auch ein­keh­ren“, wein­te mei­ne Schwes­ter.
„Nichts, wir gehen wei­ter. Dort bei jenem gros­sen Stein ist Stun­den­halt und du bekommst Tee und Zitro­nen­zu­cker!“
Dabei sahen wir, wie Frau Leh­rer am Ruh­sitz vor­bei ging, ohne einen Blick ins Inne­re zu wer­fen. Der Gemein­de­am­mann jedoch trat ein.

Punkt zwölf Uhr waren all aus­ser dem Füh­rungs­trio im Berg­re­stau­rant. Wir bestaun­ten die Aus­sicht, füt­ter­ten die Berg­doh­len mit Brot und war­te­ten auf den Leh­rer, ohne den man nicht essen konn­te. Frau Leh­rer stand mit sor­gen­um­wo­be­nem Gesicht am Gelän­der.
„Er kann fast nicht mehr, der Leh­rer hat Hexen­schuss!“, hör­te man nun den Schul­vor­ste­her, der mit dem Gemein­de­am­mann den geknick­ten Kör­per des armen Leh­rers stütz­te, als sie um die Fels­na­se im Blick­feld der neu­gie­rig war­ten­den Berg­stei­ger erschie­nen.
Wort­los eil­te die besorg­te Gat­tin die stei­len Stu­fen hin­un­ter und half, den Lei­den­den auf den Gip­fel zu hie­ven. Sie schrie nach Was­ser, aber der umsich­ti­ge Vor­ste­her stand schon mit einem Zwei­er Roten da, den der Leh­rer in einem Zug leer­te und nach mehr lechz­te. Wir wur­den ins Restau­rant geschickt, um uns zu ver­pfle­gen, denn aus­nahms­wei­se müs­se man nicht auf den Herrn Leh­rer war­ten.
Laut schrei­end stürz­te sich die hung­ri­ge Ban­de end­lich an die Tische. Die sor­gen­vol­le Gestalt der Frau Leh­rer erschien unter der Tür und erklär­te mit sanf­ter Stim­me, dass es dem Herrn Leh­rer gar nicht gut gehe. Es sei der böse Hexen­schuss, wes­halb man ihm den Halt im Ruhe­sitz wohl zuge­ste­hen müs­se, und dass er sich nun bereits auf dem Abstieg befin­de. Die Müt­ter sahen sich mit bedeu­tungs­vol­len Minen an.
Als die Sup­pe mit Wie­ner­li und Brot auf­ge­ges­sen und der Sirup leer getrun­ken war, mach­te man sich auf den Abstieg. Gefähr­lich stürz­ten sich die Älte­ren den stei­len Pfad hin­un­ter. Kein Leh­rer stopp­te sie. Macht­los ver­such­ten besorg­te Müt­ter und Beglei­ter Ord­nung in die rasen­de Kolon­ne zu brin­gen.
„Dort sit­zen sie schon wie­der!“, rief einer der Schü­ler beim Ruh­sitz. Die Mine der Frau Leh­rer ver­fins­ter­te sich noch mehr. Kei­ner der Schü­ler hat­te Taschen­geld zum Ein­keh­ren. Also traf man sich beim Bus und war­te­te bis alle ein­ge­trof­fen waren und der Leh­rer wie­der in sei­nem Sitz neben dem Fah­rer sass und alles unter sei­ner Kon­trol­le hat­te. Wir Schü­ler freu­ten uns laut­stark, denn wir hat­ten schliess­lich den höchs­ten Berg bestiegen.

Wie­der beim Schul­haus, sam­mel­te sich der Leh­rer vor dem Aus­stei­gen und erklär­te den nächs­ten Tag als schul­frei, damit sich alle vom Mus­kel­ka­ter erho­len kön­nen.
Mei­ne Mut­ter ärger­te sich und mein­te, dass das nie pas­siert sei, als sie noch zur Schu­le gegan­gen war und dass wohl der Leh­rer, aber nicht die Schü­ler, Erho­lung brauche.

Der hör­te das nicht, denn er war bereits in Gesell­schaft des Schul­vor­ste­hers und des Gemein­de­am­manns um die nächs­te Ecke in Rich­tung Dorf­beiz verschwunden.

Längst ver­gan­ge­ne Zei­ten! Sol­che Vor­komm­nis­se sind in der heu­ti­gen schul­ei­ter­ge­führ­ten Schu­le unmög­lich, ja nicht ein­mal denkbar!

Der Auto die­ser Geschich­te ist Peter Wit­tich. Er hat die­se denk­wür­di­ge Schul­rei­se im Jahr 1948 mit­er­lebt, er war als Schü­ler dabei. Auf­ge­schrie­ben hat er sie als Zeit­zeu­ge viel spä­ter.
Das Schwei­zer Radio such­te in den Anfän­gen der 2’000er Jah­re Geschich­ten und Geschicht­chen von frü­her. Peter Wit­tich hat sie also mit knapp 60 Jah­ren Ver­zö­ge­rung in Wor­te gefasst. Und sie wur­de im Radio vor­ge­le­sen. Dabei hat er geflis­sent­lich die Namen der han­deln­den Per­so­nen weggelassen.

Wir lie­fern sie hier nach:

Herr Leh­rerWal­ter Brauch­li (1893–1975)
Leh­rer in Gott­lie­ben von 1926 bis 1958
Frau Leh­rerGer­trud Brauch­li-Wege­li (1892–1971)
Toch­ter von Eli­sa­beth Wege­li, Grün­de­rin der Gott­lie­ber Hüppen
kor­pu­len­ter SchulvorsteherAugust Mey­er-Mei­dert (1892–1959)
Fischer, Vater von August Meyer-Moser
Gemein­de­am­mannKon­rad Egloff (1896–1973)
im Amt von 1931 bis 1964
Mut­terRuth Wit­tich-Egloff (1917–2010)
Mut­ter von Peter Wittich
wei­nen­de SchwesterSusan­ne Wit­tich (1941–1999)
Schwes­ter von Peter Wittich
Der AutorPeter Wit­tich (geb. 1939)

Eine Antwort zu Die Besteigung des Hohen Kastens

  1. Anton Ellenbroek sagt:

    Eine sehr lus­ti­ge Geschich­te von mei­nem ehe­ma­li­gen Mit­schü­ler Peter Wit­tich. Wir haben zusam­men die Sekun­dar­schul­zeit ver­bracht mit den Leh­rern Streck­ei­sen und Fischer.
    Ich kann­te auch alle Män­ner auf dem Bild. Sie waren häu­fig “Gäs­te” im Restau­rant Rhein­eck mei­ner Grosseltern.
    Ich ver­mu­te, vie­le der heu­ti­gen Schü­ler wür­den schon im Ruh­sitz schlapp machen ohne Hexenschuss.
    Dan­ke für die­sen Bericht.

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