Hermann Müller wurde am 21. Oktober 1850 im Riegelhaus vis-à-vis des Restaurants Linde geboren. Sein Vater war Konrad Müller-Egloff, Weinbauer und Bäcker, und seine Mutter Maria Egloff stammte vom Bauernhof Nagelshausen oberhalb von Tägerwilen. Im Jahre 1851 eröffnete sein Vater eine Bäckerei, was ihm den Übernamen „de Syrache Bürlibeck“ eintrug. Der Übername erinnerte an den Urgrossvater Syrach Müller-Egloff, welcher das Riegelhaus 1805 erbauen liess. Hier lebte Hermann Müller bis zu seinem 18. Lebensjahr.
Während seiner Wirkungszeit in Geisenheim litt Hermann Müller unter Heimweh, wes- halb er jedes Jahr die Sommerferien zusammen mit seiner Familie im Elternhaus in Tägerwilen verbrachte.
1850 | Geburt am 21. Oktober 1850 in Tägerwilen |
1855 – 1860 | Primarschule in Tägerwilen |
1861 – 1863 | Sekundarschule in Tägerwilen, im Haus Rest. Zur Treu, und dann in Emmishofen wegen Schliessung der Sekundarschule |
1864 – 1868 | Lehrerseminar Kreuzlingen, damals unter Leitung von Direktor Johann Ulrich Rebsamen |
1869 – 1870 | Lehrer an der städtischen Realschule in Stein am Rhein |
1870 – 1872 | Polytechnikum Zürich (ETH), Herbst 1872 Diplom als Fachlehrer für Naturwissenschaften. Anschliessend Berufung als Lehrer für Naturwissenschaften, Mathematik und Turnen ans Lehrerseminar in Kreuzlingen. – Aber Müller wollte sein botanisches Studium fortführen, und er hatte Glück, weil er |
1872 – 1876 | zu Prof. Julius Sachs nach Würzburg gehen konnte. Dieser war der führende Pflanzenphysiologe seiner Zeit. |
1874 | Müller promovierte mit dem Prädikat “Summa cum laude” zum Doktor der Naturwissenschaften mit einer Arbeit über Sporenvorkeime und Zweigvorkeime der Laubmoose. Julius Sachs bot nun dem „kleinen“ Müller eine Assistentenstelle am Pflanzenphysiologischen Institut der Universität Würzburg an. Es war dies eine fruchtbare Zeit. |
1876 – 1890 | Berufung nach Geisenheim als Leiter des neugeschaffenen „Institutes für Pflanzenphysiologie“ an der Preussischen „Lehr- und Forschungsanstalt für Wein‑, Obst- und Gartenbau“. In Geisenheim oder in Würzburg gab es noch einen Pflanzenphysiologen mit Namen Hermann Müller. Um Verwechslungen zu vermeiden, wurde deshalb der „kleine“ Müller aus Tägerwilen einfach Müller-Thurgau genannt, was ihm offenbar gefiel. |
1881 | Am 24. September Heirat mit Bertha Anna Biegen, geb. 1862, Tochter eines hessischen Weinhändlers. Dem Paar wurden drei Töchter geschenkt: Elisa, Marie Louise und Anna Natalie. |
1890 | Anfrage aus der Schweiz an Prof. Müller, eine „Schw. Versuchs- und Lehranstalt für Obst‑, Wein- und Gartenbau“ aufzubauen. Zum Abschied von Geisenheim wurde Prof. Müller-Thurgau durch den „Deutschen Weinbauverein“ zum Ehrenmitglied ernannt. Als Geschenk erhielt er einen goldenen Ehrenpokal. Auf der „Abmelde-Bescheinigung“ vom 31. Dezember 1890 aus Geisenheim erschien erstmals Müller-Thurgau als Familienname. |
1891 – 1923 | Erster Direktor der „Schweizerischen Versuchsanstalt für Obst‑,Wein- und Gartenbau“, Wädenswil. Müller-Thurgau und Heinrich Schellenberg, sein erster Mitarbeiter, bezogen im Frühjahr 1891 das Landvogteischloss Wädenswil, eine Schenkung des Kantons Zürich, und weitere Gebäulichkeiten. Die Gebäulichkeiten waren in schlechtem Zustand. So mussten sie und die Schüler zuerst in Provisorien hausen. |
1892 – 1924 | Redaktor der Schweizerischen Zeitschrift für Obst- und Weinbau |
1902 | Die Eidgenossenschaft übernahm die Versuchsanstalt, nicht aber die Schule, da der Bund damals keine solche Schule führen durfte. Müller-Thurgau forcierte nun den Bau eines Laboratoriumsgebäudes. Und zudem eröffnete er eine Abteilung für Verwertung, da die Verwertung der Produkte für den wirtschaftlichen Erfolg ausschlaggebend war. |
1920 | Aus Anlass des 70. Geburtstags wurde Prof. Dr. Hermann Müller-Thurgau von der Universität Bern zum Ehrendoktor und von vielen landwirtschaftlichen Organisationen zum Ehrenmitglied ernannt. |
1923 | Bis zum 73. Altersjahr leitete er die Versuchsanstalt in Wädenswil. |
1927 | Tod nach kurzer Krankheit am 18. Januar in Wädenswil |
Drei Hauptleistungen bzw. Lebenswerk
Aufbau der „Schweiz. Versuchsanstalt für Obst‑, Wein- und Gartenbau“ in Wädenswil.
Erforschung der biologischen Ursachen der Alkoholgärung von Frucht- und Traubensäften – als erster nach Louis Pasteur (1822–1895) – und damit Schaffung der wissenschaftlichen Grundlagen für gärungslose Obst- und Traubenverwertung.
Züchtungsarbeit einer neuen Rebsorte „Riesling x Sylvaner“, welche insgesamt über 30 Jahre dauerte.
Forschungstätigkeit
Müller-Thurgau forschte im Bereich der Assimilationsvorgänge in den Blättern und dabei vorallem über den Aufbau der Assimilationsprodukte wie Zucker, Stärke und Zellulose. So erkannte er als erster, dass bei der Kartoffel bei einer Lagertemperatur von 0° C und tiefer Stärke in Zucker übergeht, womit sich grosse Mengen von Zucker in den Kartoffeln anhäufen und diese unbrauchbar machen, das sog. „Süsswerden“.
Durch sorgfältige Erwärmung der Kartoffeln findet ein lebhafter Zuckerabbau und damit ein Entsüssen statt.
Von 1875 bis 1880 erforschte er das Gefrieren und Erfrieren der Pflanzen.
Punkto Trauben untersuchte er die Abhängigkeit der Beeregrösse sowie des Zucker- und Säuregehaltes bei der Reife und Überreife. Hinsichtlich Obstbäume forschte Müller-Thurgau über die Blütenknospenbildung, die Befruchtungsvorgänge und die Fruchtentwicklung. Er erkannte als erster, dass die Blütenknospenbildung von der Zuckerkonzentration in den knospennahen Geweben abhängt, woraus er die Kohlenhydrat/Stickstoff-Theorie entwickelte.
Viel Zeit widmete er der Erforschung von Krankheiten und Schädlingen. Beim „falschen Mehltau“ (Pilze: Peronospora) führten seine Forschungen zum Aufbau einer wirksamen Spritzfolge und zur Wahl der richtigen Spritzdaten. Als Ursache für den „Rotbrenner“ bei Reben fand er zusammen mit Dr. Osterwalder einen Pilz (Pseudopeziza tracheiphila), worauf er die Bekämpfung mit frühzeitigem Spritzen von Bordeauxbrühe empfahl. Zudem entdeckte er als Ursache der Kräuselkrankheit der Reben eine Milbe (Phylloxoptes vitis). Darum empfahl Müller-Thurgau das Bestreichen der Stöcke vor dem Austrieb mit Schwefelpräparaten.
Vom Riesling x Sylvaner zum Müller-Thurgau
Seit 1877 führte Hermann Müller systematische Züchtungsarbeit bei der Rebe durch.
Nach dem Festlegen des Zuchtziels 1882 wählte er Riesling (Mutter) und Sylvaner (Vater) als Elternsorten aus. Er erhoffte sich, dass die nachkommenden Pflanzen einen hohen Anbauwert und eine gute Qualität zeigen würden. Die ausgeprägte Frühreife war Zufall und Glück zugleich. Bei der Kreuzung zweier Sorten wurde Blütenstaub der Vatersorte mittels feiner Pinsel auf die Narbe der Muttersorte gebracht. Die behandelten „Gescheine“ (Blütenstand) wurden mit kleinen Säcken eingeschlossen, um zu verhindern, dass fremder Blütenstaub dazukam. Aus den gewachsenen Trauben wurde im Herbst Samen gewonnen, in Sand eingebettet und bei unterschiedlichen Temperaturen aufbewahrt (um die Keimhemmung zu verlieren). Dann wurden die Samen ausgesät. Die entstandenen Pflanzen waren sichere Nachkommen der ausgewählten Elternsorten. Jede dieser Pflanzen (Sämling) unterschied sich von beiden Eltern und den anderen Pflanzen. So gewann er in Geisenheim eine grosse Zahl von Sämlingen, wovon er 1891 beim Wechsel nach Wädenswil die 150 wertvollsten Zuchtpflanzen mitnahm. In Wädenswil wurde Müller durch den Weinbautechniker H. Schellenberg, Chef der Weinbauabteilung, tatkräftig unterstützt. Nach einigen Jahren konnten die ersten Trauben gewonnen werden, welche dann mittels Degustation eine weitere Auslese ermöglichten. Von diesen wurden die wertvollsten Pflanzen auf ungeschlechtlichem Weg durch Stecklinge vermehrt. Nach weiteren Jahren konnte ein gewisses Quantum Trauben der verschiedenen Zuchtnummern gewonnen werden. Obwohl das Keltern kleiner Mengen Trauben schwierig war, gelang es dann, verschiedene Sorten miteinander zu vergleichen, um besondere Eigenschaften zu erkennen. Nach über 20 Jahren Arbeit verblieben dann noch zwei Zuchtnummern, welche sich besonderer Aufmerksamkeit erfreuten, wovon Nr. 58 (später Nr. 1) dann weiter vermehrt wurde. Davon konnten 1906 erstmals 100 Liter Wein gewonnen werden. Durch die Annahme des „Kunstweingesetzes“ 1912 wurde das „Gallisieren“ (Zusatz von Zuckerwasser zum Wein) verboten, was den Anbau neuer Weinsorten förderte. An der Landesausstellung 1914 in Bern standen verschiedene Jahrgänge der neuen Sorte zur Prämierung bereit.
Gemäss Wikipedia-Artikel zur „Müller-Thurgau“-Weissweinsorte verlief die „Klärung der Kreuzungspartner“ wie folgt: Schon Müller-Thurgau selbst hegte Zweifel darüber, welche Eltern-Rebsorten er verwendet hatte. Dann konnte Heinz-Martin Eichelsbacher (1924–2003) bei seiner Promotion 1957 an der „Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau“ in Veitshöchheim, Franken, nachweisen, dass Silvaner-Erbgut fehlt. Dieses Resultat wurde 1998 an der „Klosterneuburger Weinbauschule“ mit Hilfe gentechnischer Verfahren bestätigt und liess auf Chasselas als Vater-Kandidat schliessen. An der Deutschen Bundesanstalt für Züchtungsforschung in Siebeldingen, Pfalz, konnte 1999 mit neuen gendiagnostischen Methoden nachgewiesen werden, dass die Rebsorte Madeleine Royale die Vater-Pflanze ist. Diese wiederum ist keine Züchtung aus dem Formenkreis des Chasselas (Gutedel), sondern gilt seit einer Untersuchung 2009 als eine Kreuzung des Pinots mit dem Trollinger.
Kampf um die Verbesserung der Weinqualität
Seit 1600 gibt es Mikroskope. Die Hefepilze wurden um 1680 entdeckt. Danach dauerte es aber noch 150 Jahre bis der Zusammenhang zwischen Hefepilzen und alkoholischer Gärung aufgeklärt war. Als Ursache der Gärung konnte der französische Physiker Cagniard de la Tour (1777–1859) die Hefepilze 1837 nachweisen. Und Louis Pasteur (1822–1895) konnte zudem zeigen, dass bei der alkoholischen Gärung nicht nur Ethanol und Kohlendioxid entstehen, sondern auch diverse Nebenprodukte. Auf diesen Erkenntnissen baute Müller-Thurgau bei seinen Forschungen über den Gärungsvorgang auf. So konnte er 1882 am Deutschen Weinbaukongress den grossen Einfluss der Temperatur auf die Gärung nachweisen. Als optimale Temperatur zur Erhaltung einer guten Weinqualität empfahl er 20 – 24 ° C. Daneben forschte er auch über Fehlgärungen bzw. deren verursachende Mikroorganismen. Am Dt. Weinbaukongress von 1890 in Worms sprach Müller über den Säuregehalt des Weins während der Lagerung und nannte säurezersetzende Bakterien als Ursache. Der dänische Botaniker Emil Chr. Hansen (1842–1909) konnte nachweisen, dass die Vergärung des Biers nicht allein von einer Heferasse, sondern von einer grösseren Anzahl bewirkt wurde. Und der deutsche Mediziner Robert Koch (1843–1910), welcher 1882 den Tuberkulose-Erreger entdeckte, hatte auch die Nährgelatine-Platten entwickelt für die Gewinnung von Mikroorganismen-Reinkulturen. Müller-Thurgau seinerseits wies nach, dass die Gärung im Weinmost auf verschiedenen Heferassen beruhte, und er war erfolgreich bei der Selektion von Hefen, welche auch noch bei tiefen Temperaturen aktionsfähig waren, z.B. bei kühlem Herbstwetter oder bei kühlen Kellertemperaturen. Dank der erfolgreichen Zucht von Heferassen, welche gegen schweflige Säure widerstandsfähig waren, konnten Fehlgärungen eingedämmt und mit Reinhefe sicher vergärt werden. Durch die Beigabe einer gewissen Menge von Reinhefe zum Most wurde eine reinere Vergärung gesichert und eine Steigerung der Weinqualität erreicht. – Neben der Forschungstätigkeit mussten Prof. Müller, Dr. Osterwalder und ihre Mitarbeiter viele Einsendungen von verdorbenen oder vergorenen Obstsäften untersuchen und Empfehlungen an die Praxis abgeben. Die Forschungstätigkeit und die Beratung der Praxis führten zu einer deutlichen Hebung der Qualität von Wein- und Obstsäften.
Grundlagen für die Herstellung alkoholfreier Getränke
Als Voraussetzung für die Erforschung der Vorgänge bei der alkoholischen Gärung brauchte Müller-Thurgau frischen, unveränderten Traubensaft. Bereits 1871 kam er auf die Idee, die Mikroorganismen im frischen Traubensaft abzutöten. Dazu wurde der Saft sofort ab Presse in Flaschen abgefüllt, verkorkt und verbunden. Danach wurden die Flaschen in einen grossen, mit Wasser gefüllten Kessel gestellt, welcher auf 70 ° C erwärmt wurde. Damit wurde der Traubensaft haltbar gemacht. – Erst nach Übersiedlung von Geisenheim nach Wädenswil Ende 1890 wandte er diese Methode auch bei Kernobstsäften an. Mit Freude stellte er fest, dass die sorgfältig sterilisierten Obstsäfte ausgezeichnete Getränke waren. – Er war auch informiert über die Versuche der Wärmepasteurisation der beiden französischen Forscher Nicolas Appert (1749–1841) und Louis Pasteur (1822–1895). Sein Freund, der Arzt und Psychiater Prof. Dr. August Forel (1848–1931), ermutigte ihn, Versuche anzustellen, um Methoden zur gewerblichen Gewinnung pasteurisierter Obst- und Traubensäfte zu entwickeln.
Die Abstinentenbewegung startete 1829 in Irland und breitete sich anschliessend in ganz Europa aus. In Genf gründete der freikirchliche Pfarrer Louis-Lucien Rochat (1849–1917) den „Schweizerischen Temperenzverein“ aus dem dann 1877 das „Blaue Kreuz“ hervorging. Müller-Thurgau lernte Susanna Orelli-Rinderknecht (1845–1939) kennen, welche 1894 in Zürich das erste alkoholfreie Restaurant (Kaffeestube) eröffnete. 1895 fand der internationale Abstinentenkongress in Zürich statt und Müller-Thurgau veröffentliche eine Arbeit in der „Schweiz. Zeitschrift für Obst- und Weinbau“ mit dem Titel „Konservierter Traubensaft als Ersatz für Weine“. Dort schrieb er u.a.: „Es ist geradezu überraschend, dass man sich bisher so wenig Mühe gab, den Traubensaft, dieses köstliche Gut, in unvergorenen Zustand zu erhalten, und so ein Getränk zu gewinnen, das den vergorenen Wein in gesundheitlicher Beziehung unbedingt übertrifft und dabei noch einen nicht unbedeutenden Nährwert besitzt, der ja bekanntlich dem Weine nicht zukommt“. Und weiter: „So würde selbst bei einer Überhandnahme der Abstinenzbestrebungen den Weinbauern der Absatz ihres Produktes gewahrt bleiben“.
In einer zweiten Arbeit, welche im Jahresbericht 1894/95 erschien, berichtete er über die Mindest-Temperatur, um Mikroorganismen (u.a. Weinhefe, hefeähnliche Pilze und Traubenschimmel) abzutöten. Ein weiteres Anliegen war ihm die Gewinnung roter Traubensäfte. Er entwickelte ein Verfahren, welches ermöglichte, den Farbstoff auch bei unvergorenen Säften zu gewinnen (bei vergorenen Säften wird der Farbstoff erst durch den Alkohol herausgelöst). Im Jahre 1896 veröffentlichte er eine grundlegende Publikation mit dem Titel „Die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obst- und Traubenweine“ im Verlag J. Huber, Frauenfeld. Schon nach zwei Jahren erschien die 5. Auflage. – Den Zusatz von gärungshemmenden Substanzen lehnte Müller-Thurgau eindeutig ab. Da auch das Abfiltern von Mikroorganismen nicht gelang, blieb nur die von ihm entwickelte Methode der schonenden Pasteurisation mit Wärme, wobei die notwendige Temperatur mindestens 60° C (während 15 bis 30 Minuten) betrug.
Das Unternehmen „Alkoholfreie Weine“
Nach der Publikation von 1896 meldeten sich beim Verfasser Interessenten aus Bern, welche das Verfahren in die Praxis umsetzen wollten. Zu den Initianten gehörten: Jenni (Nationalrat BE), Jäggi, Balsthal (Grossratspräsident SO), Tanner (Stadtrat Bern), Siemon-Liebi (Kaufmann aus Bern) und Rooschütz (Mineralwasserfabrikant Bern). Sie gründeten am 13. Juni 1896 die Firma „Erste Schweizerische AG zur Herstellung unvergorener und alkoholfreier Trauben- und Obstsäfte“ mit Sitz in Bern. Müller-Thurgau war Verwaltungsrat (VR) und wissenschaftlicher Berater. Das Gesellschaftskapital betrug 250‘000 Franken. Die Berner Fabrikanlage wurde im Hebst 1896 gebaut und nahm sofort den Betrieb auf. Sie wurde für eine Produktion von 500‘000 bis 600‘000 Liter geplant und kostete 292‘000 Franken. Im ersten Herbst wurden 130‘000 Kilo Obst und 350‘000 Kilo Trauben verarbeitet. Trotz den Anweisungen von Müller-Thurgau gingen im ersten Jahr 40‘000 Liter Getränke in Gärung über, weil Hefezellen und andere Mikroorganismen sich durch feinste Poren einschlichen. Bis im Frühling 1897 wurden 170‘000 Flaschen verkauft. Im März beschloss der VR den Bau einer Filiale in Meilen, welche im Herbst 1897 bezogen werden konnte und 332‘000 Franken kostete. Der aus Rüschlikon stammende Bauernsohn Hermann Schwarzenbach (1864–1926) leitete die Filiale bis 1922. Er war ein Geisenheimer Schüler. Wegen des Baus der Filiale in Meilen und Fehlentscheiden des VR geriet die AG in eine finanzielle Schieflage. Deshalb wurde das Aktienkapital zuerst auf 800‘000 Franken erhöht und 1898 dann sogar auf 1,1 Millionen aufgestockt. Im Jahre 1900 wurde das Kapital der „Gesellschaft für alkoholfreie Weine, Bern“ auf 400’000 Franken und 1904 auf 250‘000 Franken reduziert. Die Berner Fabrik wurde 1903 geschlossen. Die Umsätze im Betrieb Meilen wuchsen ab 1903/1904 stetig. Deshalb konnte sieben Jahre nach Gründung erstmals eine Dividende von 5 % bezahlt werden. Bis 1918 konnte regelmässig eine Dividende ausbezahlt werden. Der VR beschloss 1917, die „Konservenfabrik Thalwil“ zu übernehmen. In Meilen wurden nun je nach Ernte und Bedarf verschiedene Fruchsäfte sterilisiert. Obwohl die Firma 1919 eine Dividende auszahlen wollte, scheiterte dies an Geldmangel. Zudem mussten die Verwaltungsräte im Herbst persönlich Geld einschiessen, um die Herbstkäufe zu bezahlen. Da sich die Süssmostbereitung zunehmender Beliebtheit erfreute, machte sich auch die Konkurrenz zunehmend bemerkbar, und zwar einerseits durch andere Mostereien, und andererseits durch abstinente Privatleute, welche im Herbst „Süssmosttage“ durchführten und dabei Flaschen zum halben Preis anboten. – Auch ein Zusammenschluss von drei Betrieben (in Oppligen, Romanshorn und Obermeilen) mit der AG „Alkoholfreie Weine und Konserven Meilen“ im Jahre 1921/22 brachte keine nachhaltige Lösung der finanziellen Probleme. Nachdem sich der Betrieb in Meilen mit grossen Mengen an Zucker zu hohen Preisen eingedeckt hatte, kam es in den Jahren 1926 und 1927 zu einem massiven Preiszerfall und dadurch zu schweren Verlusten. Nur dank der Übernahme des insolventen Betriebs durch die Migros AG im Juni 1928 konnte ein Konkurs verhindert werden. In der Folge wurden die Preise für Süssmost und Traubensaft stark gesenkt, worauf die Lagerkeller im August leer waren. Im Dezember wechselte dann die Firma, mit unverändertem Namen und Zweck, den Besitzer. Nach Abschreibungen von mehr als einer Million Franken betrug das Aktienkapital noch 540‘000 Franken. Im Jahre 1929 wurde das Fabrikationssortiment erweitert und der Firmenname wurde auf „Produktion Meilen AG“ gewechselt. Wegen veralteter Einrichtungen stellte die Firma 1933 die Saftproduktion ganz ein, und die Migros AG bezog Süssmost und Traubensaft von anderswo her. Gottlieb Duttweiler (1888–1962) wusste um das Risiko bei der Firmenübernahme. Aber er bewahrte mit seinem Kauf einerseits einige Dutzend Personen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und andererseits den Süssmost und den Traubensaft vor einem schweren Prestigeverlust.
Persönlichkeit
Die Art von Prof. Dr. Hermann Müller-Thurgau wurde als einfach und bescheiden beschrieben. Sein Auftreten war bestimmt, er verfügte über ein lebhaftes Temperament und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Trotz ernstem und strengem Charakter zeichnete er sich aber auch durch Witz und Humor aus. In geselliger Runde strahlte er Fröhlichkeit aus. Er erkannte nicht nur wissenschaftliche Grundprobleme rasch, er war er auch ein brillanter Zeichner. Sein Lebenswerk besteht aus über 500 teilweise grundlegenden wissenschaftlichen Publikationen. Voraussetzungen für dieses Werk waren eine grosse Schaffenskraft und eine straffe Selbstdisziplin. Ein von ihm häufig zitierter Grundsatz war: „Nüd naa laa gwünnt“.
Familie und Freunde: Ein besonderes Verhältnis hatte er zu seiner ältesten Tochter Elisa, welche seinem eigenen Wesen nahestand, und zu deren Sohn bzw. seinem Enkel. Diesen nahm er auf Spaziergänge mit und zeigte ihm, wie man ein Herbarium anlegt. Sein engster Freund in Wädenswil war der Dorfarzt und Organist Dr. Felix. Mit ihm setzte er sich für Reformen in der Gemeinde ein. Seine Begeisterung für die Natur äusserte sich im Einsatz für den Alpinismus (im Rahmen des SAC) sowie besonders für die Alpenflora. Weitere Freunde waren Dr. Wyssling, Professor für Elektrotechnik an der ETH, und Erbauer eines der ersten Elektrizitätswerke („An der Sihl“) der Schweiz. Auch Thurgauer gehörten zu seinen Freunden, so Oberst Fehr von der Kartause Ittingen und Bundesrat Dr. med. Adolf Deucher (1831–1912) aus Steckborn.
Das Verhalten seinen Mitarbeitern gegenüber war von Strenge geprägt. Zuweilen überschätzte er deren Leistungsmöglichkeiten. Weil er peinlich genau war, galt er beim Laborpersonal als Pedant. Dieser Wesenszug rührte von seinen Erkenntnissen über die Mikroorganismen her.
In der Öffentlichkeit engagierte er sich als Mitglied der Schulbehörde in Wädenswil. Er setzte sich für eine Modernisierung des Lehrplans und der Unterrichtsmethoden ein. – Besonderer Erwähnung bedarf noch seine Haltung gegenüber der Abstinenzbewegung. Obwohl er oft über die Schäden des Alkoholmissbrauchs geschrieben hatte und zudem als der Forscher und Förderer für alkoholfreien Wein und Most galt, widerstand er dem Drängen von Prof. Forel und von Susanna Orelli, der Abstinenzbewegung beizutreten. Er war ein unabhängiger Geist und wollte dies auch bleiben.
Andenken an Prof. Dr. Hermann Müller-Thurgau in Tägerwilen
Müller-Thurgau Haus 1805 mit Gedenktafel zum 100. Geburtsag 1950
Müller-Thurgau-Strasse nach 1960
Plastik von Hermann Müller-Thurgau, 1985, von Ernst Friedli, Geschenk TKB
Verein „Rebleute Müller-Thurgau Tägerwilen“ 1995 mit Weinberg bzw. Rebfeld im Nüsatz und mit Wein „Tägerwiler Müller-Thurgau”
Wichtigste Quelle:
Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Band 29, 1974, Zürich „Hermann Müller-Thurgau“: Seiten 9 bis 64, von Prof. Dr. Robert Fritzsche, Direktor der Eidg. Forschungsanstalt Wädenswil
Weitere Quellen:
Paul Bär „Tägerwilen – Ein Blick in die Vergangenheit“ 1988
„Das Müller-Thurgau-Haus“, Seiten 24 bis 29Historisches Lexikon der Schweiz
Wikipedia
27. Dezember 2023 Rolf Seger